Das Verb
In unserem Text (Draußen vor der Tür, 3. Szene) lassen sich (1) die gleichzeitige Anwesenheit der Parteien, (2) eine ihnen gemeinsame Situation und (3) eine Wechselseitigkeit der Wahrnehmung definieren.
(1) Die Parteien sind auf der einen Seite Beckmann und auf der anderen Seite der Oberst mit seiner Familie. Die Familienmitglieder sind eine Gruppe von Gleichgesinnten, Beckmann ist ein Außenseiter. Die jeweils sprechende Person spricht sich selbst mit ich an und den jeweiligen Gesprächspartner mit Sie oder du oder sie. Das haben wir in der Lektion Artikelwörter und Pronomen ausführlich besprochen.
(2) Beckmann besucht den Oberst in seiner Wohnung. Der Oberst lädt den ungebetenen Gast nicht zum Essen ein. Aber er gewährt ihm eine zehnminütige Audienz. Das Hier und Jetzt ist eine warme, helle Stube, und draußen ist es Abend, ein kalter, dunkler Abend. Beckmann steht, der Oberst sitzt. Er thront inmitten seiner Familie. Der hell erleuchtete, einladend gedeckte Tisch ist das Zentrum der Szene. Als das Gespräch ein böses Ende nimmt und die Lampe umfällt, endet die Szene wie ein Spuk.
(3) Die Rollenverteilung der Figuren manifestiert sich in einem zum Teil sehr schnellen wechselseitigen Schlagabtausch. Wenn die Diskussion am Ende eskaliert, dann deshalb, weil in den Dialogen, noch deutlicher aber in den Monologen, vor allem im Traummonolog, in dem die Gegenseite schweigt, gegensätzliche Weltbilder aufeinanderprallen (z.B. in der Frage, was ein Mensch ist). Das haben wir in der Lektion Das Substantiv ausführlich besprochen.
"Sind Kopräsenz der Parteien, Gemeinsamkeit der Situation und Wechselseitigkeit der Wahrnehmung gegeben, so eröffnet dies spezifische, situationsgebundene Möglichkeiten der Referenz auf Personen, Raum und Zeit." (siehe Duden-Die Grammatik, Randnummer 2031)
Die Referenz auf Personen, Zeit und Raum ist im konjugierten Verb veranlagt.
Nur zwei Tempora, Präsens und Präteritum, sind synthetisch, d.h. sie werden durch Veränderung am Wort selbst gebildet. Das Futur I und II, das Präsensperfekt und das Plusquamperfekt sind dagegen analytische (zusammengesetzte) Zeitformen, die ebenso wie das Passiv mit Hilfsverben gebildet werden. Sie zählen nicht wie das Präsens und das Präteritum direkt zur Flexion des Verbs (=Konjugation). Mit zur Flexion des Verbs aber zählt die Bildung der infiniten Verbformen: Infinitiv, Partizip I und II.
Beispiel aus dem Text:
Beckmann: Jawohl, Herr Oberst. Bin (1. Pers. Sg., Ind. Präs.) irgendwo mit eingestiegen (Part. II). In Stalingrad, Herr Oberst. Aber die Tour ging (3. Pers. Sg., Ind. Prät.) schief, und sie haben (3. Pers. Pl., Ind. Präs.) uns gegriffen (Part. II). Drei Jahre haben (1. Pers. Pl., Ind. Präs.) wir gekriegt (Part. II), alle hunderttausend Mann. Und unser Häuptling zog (3. Pers. Sg., Ind. Prät.) sich Zivil an und aß (3. Pers. Sg., Ind. Prät.) Kaviar. Und wir löffelten (1. Pers. Pl., Ind. Prät.) heißes Wasser.
Das Verb im Präteritum und im Perfekt
Die Verwendung des Tempus Präteritum ist mit der Absicht verbunden, ein Ereignis einem bestimmten Zeitpunkt in der Vergangenheit zuzuordnen. Um welchen Zeitpunkt es sich konkret handelt, wird z. B. durch eine Zeitangabe oder den Kontext geklärt.
1. Beispiel für die Verwendung des Präteritums in einem Satz mit Zeitangabe: Das ist eine sogenannte Gasmaskenbrille, meine Liebe. Wurde bei der Wehrmacht 1934 als Brille unter der Gasmaske für augenbehinderte Soldaten eingeführt.
2. Beispiel für die Verwendung des Präteritums, eingeleitet durch den Kontext: Haben Sie das ganz vergessen, Herr Oberst? Den 14. Februar? Bei Gorodok. Es waren 42 Grad Kälte. Da kamen Sie doch in unsere Stellung, Herr Oberst, und sagten: Unteroffizier Beckmann.
In beiden Beispielen hätte ebenso gut das Perfekt verwendet werden können, da das Perfekt als "analytisches" Präteritum dem Sprecher prinzipiell stellvertretend zur Verfügung steht.
"Die Funktionen des Präsensperfekts und des Präteritums überschneiden sich insofern, als der Sprecher sich bei beiden Tempora auf Vergangenes beziehen kann." (Duden-Die Grammatik, Randnummer 742)
Doch während das Präteritum grundsätzlich durch das Perfekt ersetzt werden kann, ist der umgekehrte Fall nicht immer angemessen: Sobald die Folgen eines vergangenen Ereignisses noch in die Gegenwart hineinreichen, ist das Perfekt die einzig richtige Option. Beckmann besitzt drei Dinge, die ihn an den Krieg erinnern: den Soldatenmantel, die Gasmaskenbrille und seinen Bürstenhaarschnitt. Der Oberst lenkt das Gespräch vom Bürstenhaar auf die Vergangenheit. Er verwendet das Verb zunächst im Präsens und wechselt dann ins Perfekt.
Oberst (unterbricht): Sagen Sie mal, was haben Sie für eine merkwürdige Frisur? Haben Sie gesessen? Was ausgefressen, wie? Na, raus mit der Sprache, sind irgendwo eingestiegen, was? Und geschnappt, was?
Das Verb im Präsens
(a) Das einfache Präsens ist die Zeitform der Gegenwart schlechthin.
"Um den Gegenwartsbezug herzustellen, braucht es kein Temporaladverbiale und keinen weiteren Kontext, da das Jetzt als Bezugspunkt gegeben ist. (siehe Duden-Die Grammatik, Randnummer 709)
Der Oberst und seine Familie essen zu Abend. Das ist der Beginn der dritten Szene. Sie ist wie eine Momentaufnahme eines ungetrübten Familientreffens. Für die Familie ist das Abendessen eine vertraute Situation, die im Hier und Jetzt fast statisch wirkt. So könnte man zu Beginn der dritten Szene sagen: Da sind Leute, die essen. Die Verwendung des Präsens vernachlässigt den Anfang und das Ende einer Handlung oder eines Zustandes. Von dem, was noch kommen wird, ist noch keine Rede. Wie hätte auch einer der Anwesenden ahnen können, dass Beckmann auftauchen und den geordneten Ablauf des Abendessens stören würde? Fast möchte man dem Oberst prophetische Gaben zuschreiben, denn er begrüßt Beckmann fast selbstverständlich wie einen alten Bekannten. Hat er vielleicht schon damit gerechnet, dass Beckmann kommen würde?
Ein anderes Beispiel ist Beckmanns Satz: Ich bin müde. Er kann nicht sagen, wann seine Müdigkeit begonnen hat und wann sie aufhören wird. Er ist eigentlich dauernd müde, im Deutschen sagt man auch lebensmüde. Der Krieg hat ihn müde gemacht. Er wünscht sich ein abruptes Ende oder eine Besserung seines Zustandes ("Ich wollte nur wissen, ob ich heute Nacht ertrinke oder am Leben bleibe"); vielleicht unterscheidet er sich darin grundlegend vom Oberst und seiner Familie: Sie wünschen sich, dass keine Veränderung eintritt, Beckmann wünscht sich eine Veränderung seiner Situation: so oder so.
Der Beginn der dritten Szene könnte wie folgt umschrieben werden: Der Oberst und seine Familie essen, während Beckmann sehr müde ist.
(b) Das einfache Präsens kann Gegenwart und Zukunft verbinden: Die Handlung, die das Verb im Präsens ausdrückt, ist zwar noch nicht vollzogen, aber die Absicht, sie zu vollziehen, ist vorhanden. Ich erzähle Ihnen meinen Traum. Ein weiteres Beispiel für die Verwendung des Präsens mit Bezug auf die Zukunft ist der Befehl, mit dem der Oberst dem Unteroffizier Beckmann die Verantwortung für einen Trupp Soldaten überträgt. Beckmann zitiert seinen Vorgesetzten wörtlich, vermutlich weil das, was dann geschah, sein Leben von einem Tag auf den anderen veränderte. Der Oberst spricht von der militärischen Aktion, als sei sie einfach durchzuführen (also im Präsens):
Unteroffizier Beckmann, ich übergebe Ihnen die Verantwortung für die zwanzig Mann. Sie erkunden den Wald östlich Gorodok und machen nach Möglichkeit ein paar Gefangene, klar?
(c) Es gibt auch ein so genanntes historisches oder szenisches Präsens, in dem vergangene Ereignisse oder Geschehnisse wiederbelebt oder vergegenwärtigt werden. In der Biographie von Wolfgang Borchert stehen die Sätze, die wichtige Stationen seines Lebens beschreiben, im Präsens.
Das Verb im Futur
In der dritten Szene des Dramas Draußen vor der Tür gibt es keine zukunftsbezogenen Aussagen, die mit dem Tempus Futur ausgedrückt werden. In Borcherts letztem Text, seinem Vermächtnis und Manifest Dann gibt es nur eins! (1947), besteht der Schluss aus sieben Absätzen, die ausschließlich Sätze im Futur enthalten. Borchert beschreibt, was morgen oder vielleicht, vielleicht heute Nacht schon alles eintreffen wird, wenn der Mensch nicht NEIN zum Krieg sagt. Er beschreibt ein ähnliches Zukunftsszenarium wie Cormac McCarthy 2010 in seinem Roman The Road.
Der Traum im Präsens
Der Traum bildet als zusammenhängender Text im Präsens den Höhepunkt der Szene mit dem Oberst. Er besteht aus einer Aneinanderreihung von Aussagesätzen, deren Geltungsanspruch und Verbindlichkeit durch keinen Modalausdruck relativiert wird. Die vielen Toten, die Beckmann so plastisch schildert, dass sich ihre Bilder ins Gedächtnis einbrennen, sind Tatsachen, vor denen der Abendbrottisch, der Ofen und das warme, weiße Bett verblassen und verschwinden wie das feine Parfüm der Gattin. Keine Spur davon bleibt. Denn jetzt herrschen der blutige Gestank und das blutige Gestöhn der Toten. Es spielt keine Rolle, dass der Traum fiktional ist. Seinen Realitätsbezug erhält er durch seine allnächtliche Gegenwart und durch die indikativischen Aussagen im Hier und Jetzt des Sprechers, der sich zu ihm bekennt.
Die indirekte Redewiedergabe im Konjunktiv I und II
Für eine indirekte Redewiedergabe gibt es in der dritten Szene nur ein einziges Beispiel. Gegen Ende der Szene relativiert der Oberst etwas, was er selbst anfangs geäußert hatte, und gebraucht dabei den Konjunktiv II: Ich dachte wahrhaftig, Sie hätten so eine leichte Verwirrung im Kopf.
Die Originaläußerung ist folgende gewesen: Ich habe aber doch stark den Eindruck, dass Sie einer von denen sind, denen das bisschen Krieg die Begriffe und den Verstand verwirrt hat.
"Die indirekte Rede erhebt gar nicht den Anspruch auf Wortwörtlichkeit und kann als reine Inhaltswiedergabe im Verhältnis zur »Originaläußerung« - wenn es sie denn gibt - ungenau und stark verkürzt sein." (Duden - Die Grammatik (Randnummer 767)
Nach der Traumerzählung und der Forderung Beckmanns, die Verantwortung zu übernehmen, ist der Oberst zuerst unsicher und um eine Antwort verlegen. Doch dann siegt sein gesundes Preußentum und er entscheidet für sich, dass alles nur ein Scherz gewesen sei. Er ändert einfach seine Meinung über Beckmann: Dieser sei alles andere als verwirrt, im Gegenteil, er sei ein Schelm, der sich einen Scherz erlaubt habe. Schließlich überwindet der Oberst seine Beklemmung mit einem lauten Gelächter.
Zu der indirekten Redewiedergabe im Konjunktiv I und II gibt es anschließend zwei Übungen.