Lektion 1

Es gibt für die Bildung neuer Wörter im Deutschen nahezu unbegrenzte Möglichkeiten.

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Die Bildung neuer Wörter

Deutsch verstehen mit einem Traum von Wolfgang Borchert

Alle Beispiele stammen aus ein und derselben Quelle: einem Text von Wolfgang Borchert.

Welchem? Das wird hier an dieser Stelle noch nicht verraten.

Unser Textauszug ist in drei Teile geteilt nach der Triade „Anfang, Mitte und Ende“. Die einzelnen Textlängen stehen im Verhältnis 1:2:1. 

Diese Dreiteilung hat übrigens verschiedene Namen:

  • Protasis (Einleitung, Exposition), Epitasis (Verwicklung, steigende Handlung mit Höhepunkt und Peripetie) und Katastrophe oder Lösung;
  • Exposition, Konfrontation, Auflösung;
  • oder nach Hegels Denkschema These, Antithese und Synthese.

Die Handlung ist figurenzentriert: Ein Mann, der Beckmann heißt, stellt einen anderen Mann, der sich Oberst nennt, zur Rede.

  • In Teil 1 sucht Beckmann den Oberst auf.
  • In Teil 2 trägt er sein Problem offen vor und provoziert.
  • In Teil 3 wird sein Protest heruntergespielt und damit unterbrochen. 

Die Erläuterungen zur Grammatik lassen sich gut nachlesen in:

Duden. Die Grammatik. Herausgegeben von der Dudenredaktion. Band 4.

https://edisciplinas.usp.br/pluginfile.php/384819/mod_resource/content/1/Duden%204-Grammatik.pdf

Wortneubildungen: Substantiv

Wortneubildungen sind neue, ungewöhnliche Wortbildungen von Substantiven oder Adjektiven. Man spricht auch von okkasionellen Wortbildungen.

Beispiel für die okkasionelle Wortbildung eines Substantivs

In Borcherts Text gibt es zwei Substantive, die den Unterschied zwischen einer usuellen und einer okkasionellen Wortbildung zeigen.

Nur die okkasionellen, d.h. die Gelegenheitsbildungen, sind die eigentlichen Wortneubildungen.

1. Riesenxylophon

2. Knochenxylophon

Beim ersten Beispiel handelt es sich um eine usuelle Wortbildung. Das Wort Riesenxylophon bedeutet >Xylophon, das riesig ist<. Die Grundform ist Riese, aber von der Bedeutung her ist es ein Adjektiv: riesig, d.h. besonders groß. 

Die Wortbildung mit riesen- ist aktiv, DWDS gibt auf einen Blick 109 Beispiele mit diesem Affix.

Beim zweiten Beispiel handelt es sich um eine okkasionelle Wortbildung. Das Wort Knochenxylophon bedeutet >Xylophon, dessen Hölzer aus Knochen sind<.

Wolfgang Borchert lässt uns am Bildungsprozess dieses neuen Wortes teilnehmen:

Da steht ein Mann und spielt Xylophon. Die Hölzer seines riesigen Xylophons sind gar nicht aus Holz, sie sind aus Knochen. Also, der General steht vor dem Riesenxylophon aus Menschenknochen und trommelt einen Marsch. Jede Nacht das Konzert auf dem Knochenxylophon.

Der Vorgang ist so transparent, dass keine Verständnisprobleme auftreten. Dieses Beispiel illustriert perfekt, wie es zur Bildung neuer Wörter kommt.

Viele Wortbildungen sind neu. Doch sie sind bezüglich ihrer Ausgangswörter transparent. Neue Wortbildungen sind problemlos verständlich, wenn ihre Ausgangswörter und der Kontext, in dem sie (ent)stehen, bekannt sind. 

Wortneubildungen: Adjektiv

Beispiel für die okkasionelle Wortbildung eines Adjektivs

In Borcherts Text gibt es das Bild von gefallenen Soldaten, die aus ihren Gräbern aufstehen. Das sind die limonadenbefleckten Toten.

Die usuelle Wortbildung wäre blutbefleckt.

Die Suche im DWDS-Wortprofil ergibt, dass blutbefleckt als Adjektivattribut sehr häufig vor den Substantiven Kleidungsstück, Kleidung, Hemd oder Uniform steht. Eine blutbefleckte (mit Blut befleckte) Uniform ist für einen toten Soldaten normal.

Die okkasionelle Wortbildung im Text ist aber limonadenbefleckt.

Wieder wird die Bedeutung dieses für Tote ungewöhnlichen, fast anstößigen oder zumindest auffälligen Attributs von vornherein geklärt. Borchert spricht nämlich unmittelbar vorher von den roten Nächten und dem weißen Mond, wenn die Toten kommen. 

Die Nächte so rotso rot wie Himbeerlimonade auf einem weißen Hemd. 

Damit ist die Verbindung zu limonadenbefleckt gegeben. Die Lesenden sind vorbereitet. Sie merken auf, aber sie sind nicht desorientiert.

Wortneubildungen sorgen für eine starke Expressivität der Darstellung.

Dabei muss man unterscheiden zwischen Erstbenennungen und Zweitbenennungen.

Erstbenennungen

Im Text von Borchert ist die Wortbildung Gasmaskenbrille ganz klar eine Erstbenennung, denn es gibt den Hinweis auf den konkreten Moment ihrer Erfindung und ihres Nutzens.

Wurde bei der Wehrmacht 1934 als Brille unter der Gasmaske für augenbehinderte Soldaten eingeführt.

Die Wortneubildung Gasmaskenbrille ist aus einem objektiven Ausdrucksbedürfnis heraus entstanden. Doch schon kurz nach Kriegsende geriet die usuelle Wortbildung schnell in Vergessenheit, als wäre sie nie etwas anderes gewesen als eine okkasionelle Wortbildung. Es bestand kein Bedarf mehr an Gasmaskenbrillen. 

Mutter (nicht gehässig, eher voll Grauen): Vater, sag ihm doch, er soll die Brille abnehmen. Mich friert, wenn ich das sehe.

Oberst: Das ist eine sogenannte Gasmaskenbrille, meine Liebe. Wurde bei der Wehrmacht 1934 als Brille unter der Gasmaske für augenbehinderte Soldaten eingeführt. Werfen Sie den Zimt doch weg. Der Krieg ist aus. 

Beckmann: Ja, ja. Der ist aus. Das sagen sie alle. Aber die Brille brauche ich noch. Ich bin kurzsichtig, ich sehe ohne Brille alles verschwommen. Aber so kann ich alles erkennen.

Alles erkennen oder alles abtun, in dieser Streitfrage liegt der Kern des Konflikts zwischen den beiden Männern. 

Das Wort Zimt, das der Oberst sagt, ist verächtlich und steht für Zeug. Die Gasmaskenbrille soll sowohl als Gegenstand, als auch als Wort so schnell wie möglich aus dem Alltag der Menschen verschwinden. Daher die wohlgemeinte Aufforderung an den anderen, sie wegzuwerfen.

Der widerspricht. Für ihn steht fest:

>Eine Gasmaskenbrille ist vor allen Dingen eine Brille.<

Beckmann muss sie tragen, weil er kurzsichtig ist. Sie ist für ihn auch eine besondere Brille, denn sie ist wie er selbst ein Überbleibsel aus dem Krieg. Sie hat die potenzielle Eigenschaft, dass man durch sie alles besser erkennt.

Das Wort Gasmaskenbrille ist stark kontextgebunden. Wie alle Gelegenheitsbildungen verschwindet es, wenn kein Bedarf mehr daran besteht. Doch es bleibt, hier sogar in sehr provozierender Form, wenn jemand seine Wichtigkeit betont.

In der ganzen Szene dreht es sich um Sinn und Unsinn von Wörtern. Die gegensätzlichen Meinungen der Männer bilden die Grundstruktur des Textes.

Zweitbenennungen

Das Wort Knochenxylophon ist eine Zweitbenennung: Es ersetzt sowohl das einfache Wort Xylophon als auch das komplexe Wort Riesenxylophon.

Ebenso ist das Wort Blutstreifen eine Zweitbenennung. Es tritt an die Stelle von Streifen und Generalsstreifen.

Da all diese Wörter Teil eines Traums sind, den Beckmann jede Nacht träumt, werden sie hier zusammen betrachtet.

Das Xylophon hat zwei besondere Charakteristiken: Es ist riesig, daher ein Riesenxylophon, und es besteht aus Knochen, daher auch Knochenxylophon. Die beiden Wortbildungen sind regelgerecht geformt, leicht verständlich, doch ist vor allem der Inhalt der okkasionellen Wortbildung (Knochenxylophon) komplexer als man denkt.

Das Wort wird von Beckmann in einem tranceähnlichen, spukhaften Moment seiner Traumerzählung vorbereitet. Immer wieder betont er, dass die Hölzer des Instruments nicht aus Holz, sondern aus Knochen sind. Dabei zählt er die einzelnen Knochen auf. Er redet von dem Riesenxylophon aus Menschenknochen und erst ganz am Schluss vom Knochenxylophon. Damit ist der Höhepunkt der von ihm bezweckten Emotionalisierung erreicht.

Zweitbenennungen folgen dem subjektiven Ausdrucksbedürfnis des Sprechers, sie führen nicht nur zu Variationen im Ausdruck, sondern auch zu einer emotionalen Steigerung.

Was die Wortbildung Generalsstreifen betrifft, gibt es eine interessante Entwicklung hin zu der Zweitbenennung Blutstreifen:

1. Die folgende Textstelle enthält bereits alle unmittelbaren Konstituenten (UK) der zukünftigen Wortbildungen: Blut, Streifen, General.

Da steht ein Mann und spielt Xylophon. Und dabei schwitzt er, der Mann, denn er ist außergewöhnlich fett. Aber er schwitzt gar keinen Schweiß. Er schwitzt Blut. Und das Blut läuft in zwei breiten roten Streifen an seiner Hose runter, dass er von weitem aussieht wie ein General. Wie ein General! 

2. Der Mann wird im weiteren Textverlauf fetter, blutiger General genannt, dann der fette Mann mit den Generalsstreifen.

Das Lexem Generalsstreifen hat im DWDS folgende Definition: >roter Streifen an der Hose der Generalsuniform<.

3. Beckmann hat die Farbe rot von Beginn an mit Blut assoziiertFolgerichtig wird Generalsstreifen in einem zweiten Schritt durch Blutstreifen ersetzt. Ebenso wie Knochenxylophon steht Blutstreifen am Ende der Traumerzählung, dem Moment höchster emotionaler Steigerung. 

Die Beispiele zeigen, dass die Wortneubildung im Deutschen nahezu uneingeschränkt ist.

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