Lektion 10

Nominalphrasen

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Nominalphrasen

Der Kern von Nominalphrasen ist ein Substantiv, eine Substantivierung oder ein Pronomen. In dieser Lektion geht es um zwei weitere Bestandteile der Nominalphrasen: die Artikelwörter und die Attribute. Als Vorlage dient Duden-Die Grammatik (Randnummer 1215 ff). Die wörtlichen Zitate aus der Dudengrammatik stehen in doppelten Anführungszeichen. Alle Beispiele stammen hingegen aus Borcherts Text.

Die Kerne von Nominalphrasen 

Der Kern der Nominalphrase kann erstens ein Substantiv sein.

[Die Toten] bilden [Sprechchöre]. [Donnernde, drohende, dumpfe Sprechchöre]. [Der Oberst] hatte [einen Pelzkragen]. [Der Oberst, der zu den Soldaten in ihre Stellung kam,] hatte [einen sehr schönen Pelzkragen].

Der Kern der Nominalphrase kann zweitens eine Substantivierung sein.

[Die Soldaten] haben [Entsetzliches] erlebt. [Das Sonderbare an dem komischen Musiker] ist [sein Schweiß]. [Die Kopfamputierten] waren noch [die Glücklichsten]. Aber sie rotten sich zusammen, [die Verrotteten]. Und [das Brüllen] wächst. Und [das Brüllen] rollt heran. Wir ersticken, wenn wir [keinen Mund zum Küssen] haben.

Substantivierte Adjektive und sustantivierte Infinitive sind besonders häufig.

Der Kern der Nominalphrase kann drittens ein Pronomen sein.

Und [uns] haben [sie] [die Köpfe] abrasiert.

Anstelle einer Nominalphrase kann ein Nebensatz stehen.

[Das Sonderbare an dem komischen Musiker] ist, [dass er Blut schwitzt].

Artikelwörter

Eine offene Diskussion der Sprachwissenschaft ist die Frage, ob Substantive Ergänzungen zu Artikelwörtern sind, oder ob diese umgekehrt eine Art "Nebenkern" zum Substantiv sind. Die Dudengrammatik spricht von Artikelphrasen. Die Regel lautet (siehe Randnummer 1220): 

„Substantive verbinden sich sehr oft mit Artikelwörtern (Determinierern), insbesondere mit dem definiten (bestimmten) oder indefiniten (unbestimmten) Artikel. Dabei sind die Artikelwörter oft nicht weglassbar. So steht bei Substantiven, die etwas Zählbares ausdrücken, im Singular gewöhnlich ein Artikelwort”. 

Substantive im Singular:

Wenn ich zehn Jahre lang [die Uniform] [eines Briefträgers] anhabe, deswegen bin ich noch lange [kein Briefträger].

Substantive im Plural:

[Ihre Fenster] sehen von draußen so warm aus. Ich wollte mal wieder merken, wie das ist, [durch solche Fenster] zu sehen. Von innen aber, von innen. Wissen Sie, wie das ist, wenn nachts [so helle warme Fenster] da sind und man steht draußen?

Attribute

Neben Kern und Artikelwörtern treten in den Nominalphrase oft Attribute auf. Anschließend wird ein Überblick über die Attribute im Deutschen gegeben. Wichtig ist folgende Feststellung (siehe Dudengrammatik, Randnummer 1221):

„Wenn sie in der Semantik des Substantivs vorangelegt sind, liegen attributive Ergänzungen vor, sonst attributive Angaben (freie Attribute)”.

Der Unterschied zwischen Ergänzungen und Angaben ist:

a. Ergänzungen können fehlen, sollten aber nur fehlen, wenn das Verstehen hundertprozentig gesichert ist. Oft sind sie für das Textverstehen unerlässlich, wie die Beispiele zeigen:

Der Mond ist wie der Bauch eines schwangeren Mädchens, das sich im Bach ertränkte. (Hier ist das Adjektiv nicht weglassbar. Es ist nicht irgendein Mädchen, es ist ein schwangeres Mädchen.)

Das Meer der Toten tritt über die Ufer seiner Gräber. Dieser Satz ist grammatisch einwandfrei. Trotzdem lautet er im Original:

Das furchtbare unübersehbare Meer der Toten tritt über die Ufer seiner Gräber. Die beiden attributiven Ergänzungen sind nicht einfach als Beigabe zu verstehen. Sie erklären die Substanz des Meeres, das Beckmann im Traum sieht. Außerdem entstehen sie aus dem Kontext und bilden gleichzeitig neuen Kontext.

Durch einen Satz vorher sind sie bereits eingeleitet worden: Eine furchtbare Flut kommen sie angeschwemmt, unübersehbar an Zahl, unübersehbar an Qual.  

Wenige Zeilen später wird durch sie die Verwendung des bestimmten Artikels gerechtfertigt: Und dann stehe ich da, vor den Millionen hohlgrinsender Skelette.

Was heißt, die "in der Semantik des Substantivs vor-angelegten" Attribute sind Ergänzungen? Borchert liefert ein ganz konkretes Beispiel, indem er gleich ganz viele attributive Ergänzungen zu dem Substantiv Tote auflistet:

schwarzgefroren, grün, verwest, einäugig, zahnlos, einarmig, beinlos, mit zerfetzten Gedärmen, ohne Schädeldecken, ohne Hände, durchlöchert, stinkend, blind, verrottet, blutig... (Die Liste ist schon so lang, dass sie endlos scheint.)

b. Angaben sind immer weglassbar.

An einer bestimmten Stelle spricht Beckmann von einem Anzug mit Knöpfen und ohne Löcher. Daraufhin sagt die Tochter: Er ist verrückt. Ganz unrecht hat sie nicht. In der Semantik des Substantivs ist der Ausdruck ohne Löcher nicht vorangelegt. Das DWDS-Wortprofil zu Anzug zitiert als seine häufigsten Attribute: mit Krawatte, mit Hemd, mit Weste, von Stange, mit Fliege, mit Schlips, aus Stoff, mit Einstecktuch, mit Nadelstreifen, mit Hose, samt Krawatte, mit Streifen, für Herr, aus Tuch, ohne Krawatte, in Farbe, mit Knopf. Apropos Knopf, auch Beckmann sagt mit Knöpfen. Das ist also eine korrekte attributive Ergänzung. Aber was soll der gleichzeitig genannte Ausdruck ohne Löcher? Wahrscheinlich gehen ihm die blutigen, verrotteten Uniformen der Toten aus seinem Traum nicht aus dem Kopf. Doch davon ahnt die Tocher aus anständigem Haus natürlich nichts.

Genauso naiv wie sie ist übrigens ihr Vater, der Oberst. Er nennt die Brille, die Beckmann zum Sehen braucht, blödsinnig. Er nennt seine Frisur versaut und ulkig. Dabei war Beckmann einer der Tausenden Kriegsgefangener, denen der Kopf rasiert worden ist. Er äußert sich abfällig über seine zerrissenen Klamotten. Weiß er als Mitverantwortlicher des Krieges nicht, was ein Krieg für "Ergänzungen" mit sich bringt, und welche "Angaben" plötzlich völlig fehl am Platz sind? 

Was falsche Angaben bewirken können, zeigt Beckmanns Reaktion. Er wird gewalttätig und verlässt das Haus des Oberst. Wieder auf der Straße betrinkt er sich. Dem Leser sei das eine Lektion. Die Wahl der Attribute muss sorgfältig erfolgen. Passend zum Kontext, wie Beckmann es uns lehrt. Angaben sind Ausdruck freien Sprechens, doch Vorsicht! Sind sie unangebracht, entlarven sie den Sprecher schonungslos als sehr naiv. Für einen Mann wie den Oberst, der die Macht hatte, Menschen in den Tod zu schicken, ein vernichtendes Urteil.

Und was Borcherts Text uns noch klar macht: Substantive ändern ihre Semantik durchaus. Tote haben wahrscheinlich immer diegleiche, diese elend lange Reihe von Attributen, die Borchert uns auflistet. Doch ein Mensch, der ganz anders wiederkommt, als er wegging? (Mit diesem Vergleich wird Beckmann eingeführt.) Sein Anderssein beruht auf der Tatsache, dass seine alten Attribute nicht mehr auf ihn passen und durch ganz neue Attribute ersetzt werden müssen.  

Im Anschluss zu diesen Überlegungen, die bei der Textinterpretation eine Rolle spielen werden, nun der Überblick über die Attribute im Deutschen:

1. Adjektivphrase oder Partizipphrase

Dann kommen sie und fragen, [ [traurige, trauernde] Frauen]. [ [Alte] Frauen mit [grauem] Haar und [harten, rissigen] Händen] —  [ [junge] Frauen mit [einsamen, sehnsüchtigen] Augen]. [[kleine] Kinder], [ein [alterschlachtenerprobter] General]. Er schwitzt Blut, [[dampfendes, dunkles] Blut].

2. Adverbphrase

Ich gebe Ihnen [die Verantwortung [dafür] ].

3. Nominalphrase im Genitiv

[Die Hölzer [seines riesigen Xylophons] ] sind gar nicht aus Holz, sondern aus Knochen. [Ganz am Ende [des Xylophons] ] da sind Fingerknöchel, Zehen, Zähne. Am meisten spielt er [den Einzug [der Gladiatoren] ]. Der Mond ist [wie der Bauch [eines schwangeren Mädchens] ].

4. Possessives Artikelwort

Wo ist [ [mein] Vater], wo ist [ [mein] Sohn], wo ist [ [mein] Bruder], wo ist [ [mein] Verlobter]? Aber [ [mein] lieber Beckmann], Sie erregen sich unnötig. Wir riechen [das feine Parfum [unserer] Gattin]. Und dann halten wir [ [unsere] gute deutsche Wahrheit] hoch.

5. Nominalphrase im Akkusativ (Zeitpunkt)

[Beim Besuch des Oberst [den 14.Februar] war es sehr kalt.

6. Apposition

[Der fremdartige Musiker, [der General,] ] spielt auf einem riesigen Xylophon. Nächste Woche erfindet einer [den Mord aller mit zehn Gramm [Gift]].

7. Präpositionalphrase

Ich übergebe Ihnen [die Verantwortung [für die zwanzig Mann] ]. Ich dachte wahrhaftig, Sie hätten so [eine leichte Verwirrung [im Kopf] ]. Es lebe [das Gelächter [über die Toten] ].

8. Relativsätze und andere Nebensätze, die von der Nominalphrase abhängen

[Ganz am Ende des Xylophons, [wo die ganz hohen Töne liegen,] ] da sind Fingerknöchel, Zehen, Zähne. Das ist [das Xylophon, [auf dem der fette Mann mit den Generalsstreifen spielt] ].

Ich habe aber doch stark [den Eindruck, [dass Sie einer von denen sind] ]. 

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